100 Jahre Frauenturnen
Frisch, frei, fröhlich, Frau!
Moderne Gymnastik wie auch Sport in (fast) allen Variationen sind für Mädchen und Frauen von heute eine Selbstverständlichkeit. Doch ebenso wie ihre heutige (fast) gleichberechtigte Stellung in der Gesellschaft mussten sich die Frauen dies in der Vergangenheit mitunter hart erkämpfen. Aus Anlass des 100-jährigen Bestehens der Abteilung Gymnastik der Turngesellschaft Seligenstadt (TGS) lohnt sich ein Blick in die Historie des Frauensports.
In den neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts entstanden die ersten Frauenabteilungen in den bislang den Männern vorbehaltenen Sportvereinen. 1910, 15 Jahre nach Gründung der Turngesellschaft Seligenstadt, wurde am Mainufer die Einführung der ersten „Damenriege“ groß gefeiert. Heute ist die Gymnastikabteilung der TGS mit rund 350 Mitgliedern – mit einem winzigen Männeranteil – die größte Abteilung der TGS. Und schließlich sind in den übrigen Abteilungen Frauen und Mädchen stark vertreten und erfolgreich.
Wer nun glaubt, dass erst im 19. Jahrhundert Mädchen und Frauen auf die Idee kamen, Sport in welcher Form auch immer zu betreiben, der irrt gewaltig! Richtig ist, dass die Organisation in Vereinen, wie sie im Wesentlichen auch heute noch Bestand hat, sowohl für Männer als auch später für Frauen ganz neu war.
Frauensport schon in der Antike
In der geschichtlichen Entwicklung des Sports sowohl für Männer wie für Frauen spiegeln sich politische Machtverhältnisse, wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung, wissenschaftlicher und technischer Fortschritt wider. Freizeitgestaltung mit sportlicher Unterhaltung konnten sich ohnehin nur die Wohlhabenden leisten. Und wissen wir, ob es sich z.B. bei den Sportlerinnen im alten Griechenland und den Akrobatinnen in Ägypten nicht um Sklavinnen handelt, die nur zum Vergnügen der Zuschauer agierten?
In den vielen Jahrhunderten bis zur Neuzeit bestimmten zahllose Kriege, Seuchen, Hungersnöte mit allen negativen Folgen das Leben der Menschen. Der Kampf ums Überleben war kein bloßes Schlagwort, sondern Alltag. Schwere Arbeit und Ausbeutung durch die Besitzenden und Mächtigen waren an der Tagesordnung.
Aufbruch in eine neue Zeit
Brüderlichkeit!“ Schon 1762 forderte der französische Philosoph Rousseau die körperliche Ertüchtigung der Frauen, allerdings „damit sie kräftigen männlichen Nachwuchs zur Welt bringen“.
Turnvater Jahn kein Freund der Frauen
Aber nicht lange nach Jahns Wirken setzte sich allmählich die Erkenntnis durch, dass Leibesübungen auch Mädchen und Frauen von gesundheitlichem Vorteil sind. Schließlich sollten sie ja gesunde Kinder zur Welt bringen. Diese vornehmlich männliche Meinung hielt sich hartnäckig bis zum Untergang des Dritten Reiches.
Furcht vor „Mannweibern“
Kaiserin Sissi als „Vorturnerin“
Die Frauen der unteren sozialen Schichten hatten andere Probleme. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts kam es in Europa aufgrund neuer technischer Erfindungen zu einer rasanten Entwicklung der Industrie – die Epoche der „Gründerzeit“ brachte gewaltige gesellschaftliche Veränderungen mit sich. Die Städte mit ihren neuen Erwerbsmöglichkeiten wuchsen rasch, die Fabriken stellten vermehrt Arbeiterinnen ein.
Turn- und Sportvereine für die Arbeiterklasse
Trotz mancherlei Hindernisse breitete sich die Frauensportbewegung weiter aus. 1860 fand in Coburg das erste Deutsche Turnfest statt, 1894 in Breslau erstmals mit weiblicher Beteiligung. 50 Turnerinnen des Alten Turnvereins Breslau zeigten Hantel- und Gerätübungen. 1898 in Hamburg waren es bereits 1000 aktive Teilnehmerinnen. Im Jahr 1900 nahmen Frauen erstmals an Olympischen Spielen teil.
Auch in der „Sportmode“ zeigten sich die emanzipatorischen Kräfte des Turnens und des Sports allgemein. Zunächst war „züchtige Kleidung“ obligatorisch, das heißt „frau“ durfte sich nur im langen Rock, langärmeliger Bluse und korsettgepanzert bewegen. Radlerinnen waren die ersten, die sich in Pumphosen auf die Straße wagten, vielfach belacht und verspottet.
Der erste Weltkrieg brachte das Ende der Kaiserzeit. Wirtschaftliche und soziale Not und der Verlust traditioneller Werte waren die Folge. Frauen mussten Aufgaben stemmen, die normalerweise ihre an der Front stehenden Männer zu erfüllen hatten. In der Weimarer Republik erreichten die Frauen den Durchbruch: sie bekamen staatsbürgerliche Rechte, waren vermehrt erwerbstätig und bekamen Zugang zu akademischen Berufen.
Sportlicher Aufschwung in den Goldenen Zwanzigern
Mit der Machtergreifung Hitlers 1933 stellte sich die bürgerliche Deutsche Turnerschaft in den Dienst der „nationalen Erhebung“. Die Arbeiter- und Arbeiterinnensportbewegung wurde von der Nazidiktatur verboten und ihre Mitglieder mussten untertauchen. Sport und Körperkultur spielten jetzt zwar eine wichtige Rolle, wurden aber den Zielen der Nazis unterworfen. Der Sinn des Frauensports lag in der Erhaltung der Gebärfähigkeit, der des Männersports in der Wehrertüchtigung.
Wirtschaftswunder fördert weibliches Selbstbewusstsein
Naziideologie „Frauen zurück an den Herd“ nach. Nur 12,5% der Sportvereinsmitglieder waren weiblich.
Dem „deutschen Wirtschaftswunder“ in den 60er Jahren verdankten die Frauen ein neues Selbstbewusstsein, wurde doch ihre Arbeitskraft verstärkt nachgefragt. Aus der Studentenbewegung Ende der 60er Jahre entwickelte sich eine neue Frauenbewegung, die die Stellung der Frau im Sinne der Gleichberechtigung enorm verbesserte. Im Zuge dessen wuchs auch der weibliche Anteil der Mitglieder in den Sportvereinen. Heute stehen Frauen alle Möglichkeiten des Sports offen – und sie werden genutzt, so viel wie nie zuvor.
(Wer sich gerne noch intensiver mit dem mitunter höchst amüsanten Thema „Geschichte des Frauensports“ beschäftigen will, dem seien zwei Publikationen empfohlen: „Die Geschichte des Frauenturnens“, herausgegeben 1994 anlässlich des Deutschen Turnfestes in Hamburg sowie das Buch „Aufgeschnürt und außer Atem“ , von den Anfängen des Frauensports im viktorianischen Zeitalter, Autorin Manuela Müller-Windisch)
100 Jahre Frauenturnen bei der TGS
Leider gibt es aus diesen frühen Jahren keine Fotos zum Thema Frauenturnen in Seligenstadt und auch keine schriftlichen Dokumente. Aus dem Programm zum „Kunst- und Werbeturnen“ vom 9. Oktober 1921 wissen wir aber, dass es Freiübungen der Turnerinnen mit Handgeräten wie auch Barrenübungen zu sehen gab. Außerdem wurde ein Reigen mit Fahnen- und Stabübungen von 12 Damen und 12 Herren vorgeführt.
Erfolge in den 30er Jahren
Nach dem Krieg lebten die alten, von den Nazis zerschlagenen Vereine wieder auf. Bereits 1946 kam es zur Gründung einer Seligenstädter Sportgemeinschaft, die sich etwas später wieder auflöste. Letztlich verblieben ab 1948 die Sportvereinigung und die Turngesellschaft
als selbständige Organisationen. Schon 1949 kamen viele Vertreter der TGS als Sieger von diversen Sportfesten nach Hause: nicht weniger als 75 Siege wurden errungen.
Die Turnlehrerin Maria Grimm und die Turnlehrer Hermann Beike und Jean Peter trainierten die erfolgreichen Mädchen und jungen Frauen Marianne Hain/Thoma, Katharina Scheich/ Becker, Margarete Schaub/Debes und Betty Burkard/Kreppenhöfer. Sie waren die ersten Mädels, die Siege und gute Platzierungen für die TGS errangen. Das größte turnerische Ereignis der Nachkriegszeit war 1953 das Deutsche Turnfest: Marianne und Betty kamen von dort als Siegerinnen zurück.
Ein sprichwörtlicher 1. Platz
Aus demselben Jahr liegt ein Gruppenfoto vor. Hierauf entdecken wir drei Turnerinnen, die noch heute bei der TGS aktiv sind! Das sind Margret Brehm/Kypke, Katharina Scheich/Becker und Betty Burkard/Kreppenhöfer. Ferner sind zu sehen Maria Guth, Hiltrud Beike, Lieselotte Grimm, Hannelore Müller, Anneliese Winter, Ursula Wurzel, Evelyn Spielmann, Marianne Hain, Elisabeth und Gisela Schließmann, Ilse Faulhaber, Maria Fischer, Maritta Disser, Sonja Kasianschuck, Inge Christ mit Turnlehrer Jean Peter (2.v.l.) und ganz rechts Willy Reigel, der die Gruppe musikalisch begleitete.
Kein Fest ohne Showtanz
Bis ins Jahr 1960 werden die Teilnehmerinnen von Jean Peter trainiert. Waren zunächst vorwiegend Männer als Trainer aktiv, nimmt die Zahl der Frauen als Übungsleiterinnen allmählich zu. Seit 1951 trainierten Marianne Hain und Katharina Scheich ihre eigenen Mädchengruppen. In den 60er Jahren übernahm Brigitte Thimmtner/Hohley das Kinderturnen.
Nach den Höhepunkten im Leistungsturnen in den 50er Jahren kam es zu einem Abschwung und Generationswechsel. Ab Beginn der 60er machte die ausgebildete Gymnastik- und Tanzlehrerin Änne Meyer-Blumör aus Hainstadt von sich reden. Ihr ist es zu verdanken, dass das Kinderturnen ausgebaut und die Gymnastik für Frauen modernisiert wurden sowie die Fastnachtstänze zu einem neuen Stil fanden. Locker und beschwingt, akzentuiert durch moderne Rhythmik, Beat und Jazz lockte die Frauengymnastik zahlreiche neue Mitglieder an.
Qualifizierung bringt Aufschwung
1965 erhielt Uschi Giel/Pardon ihre Übungsleiter-Lizenz. Nicht nur im sportlichen Bereich war sie aktiv: von 1983 bis 2009 war sie an Fastnacht aktiv in der Bütt´ erfolgreich und gehörte von 1991 bis 2005 dem geschäftsführenden Vorstand an.
Als weitere Übungsleiterinnen in dieser Zeit des Aufschwungs sind zu nennen: Ellen Zöller-Sörennsen, Uschi Prokesch/Fecher, Monika Kühn/Müller, Isolde Westfehling und Christa Fritscher. Diese jungen Frauen gehören auch zu den Leistungsträgerinnen des Turnens. So wurde z.B. Uschi Prokesch/Fecher 1967 Gaukinderturnfestsiegerin im gemischten 8-Kampf.
Die Abteilung Gymnastik der TGS wurde immer größer und das Angebot immer vielfältiger. Neben der konventionellen Gymnastik wurde tänzerische Gymnastik eingeführt und 1974 eine weitere Gruppe gebildet, die gesundheitsbetonte Gymnastik betrieb. Dem Verein gelang es, auch hierfür eine Übungsleiterin zu verpflichten, die die professionellen Voraussetzungen erfüllte: die Krankengymnastin Monika Wehking. Immer wieder neu belebt wurde die Gymnastik durch Modesportarten wie z.B. Aerobic; viele begeisterte Teilnehmerinnen tobten sich unter Leitung von Rainer Bauer (1982 – 1999) in dieser schweißtreibenden Disziplin aus.
Von einem Highlight zum nächsten
Seligenstädter Frauen, und insbesondere die in der TGS, verstehen es zu feiern und zu genießen – alljährliche Höhepunkte sind die 4-Tages-Reisen, die die Gymnastik-Damen u.a. bereits nach Göteborg, Mailand, Paris, London und Wien führten. 20 Jahre lang wurden diese Touren von Ingrid Büchmeier perfekt organisiert, nachgefolgt von Yvonne Sticksel und Doris Ott.
Die weibliche Führungsriege
Die aktuellen Übungsleiterinnen sind für das Turnen (vom Kleinkind bis zu den jungen Erwachsenen) Renate Kreutzer mit ihren Assistentinnen Lisa Wellner, Luisa Gaul und Gloria Groher. Das besonders breite Angebot im Bereich Gymnastik (von gesundheitsorientierter Gymnastik bis Step-Aerobic) realisieren Renate Kreutzer, Andrea Reichenbach, Simone Ochs, Ines Karnbach, Ruth Bayer , Annegret Burkard und Rosel Beike. Für die Senioren (Tanzen, Radfahren, Kegeln, Schwimmen, Gymnastik) engagieren sich Brunhilde Winkler, Ute Sonntag, Ruth Bayer und Annegret Burkard. Über die Einzelheiten können sich Interessierte direkt bei den Übungs- und Abteilungsleiterinnen oder im Internet (www.tgs-seligenstadt.de) informieren.
Fastnacht bei der TGS
Ergänzt wird das reguläre sportliche Angebot der Abteilung Gymnastik von verschiedenen Kursen, allen voran das beliebte Yoga. Nordic Walking hat das Image eines Modesports abgelegt und wird bei der TGS als gesundheitlich höchst effektive Sportart betrieben. Weitere Themen der Kursangebote waren bisher Pilates, Beckenboden-Gymnastik und Rückenfitness, manches von Krankenkassen finanziell unterstützt.
„Es gehört alles zusammen“
(Verfasserin: Freya Göttlich, anlässlich des Jubiläums 100 Jahre Abteilung Gymnastik der TGS 2010, in Zusammenarbeit mit Rosel Beike)